Die Passionsspiele in Erl: Gelebte Tradition seit 1613
Alle sechs Jahre verwandelt sich der kleine Tiroler Ort Erl, nahe Kufstein, in eine Bühne der besonderen Art: Die berühmten Passionsspiele Erl ziehen Besucher aus aller Welt an. Ihren Ursprung verdanken sie einem Pestgelübde aus dem Jahr 1613. Seit dieser Zeit bringen die Menschen der Region mit großer Hingabe die Leidensgeschichte Christi auf die Bühne.
Diese uralte Tradition ist nicht nur ein fester Bestandteil des kulturellen Lebens in Tirol, sondern auch ein beeindruckendes Zeugnis dafür, wie Glaube, Gemeinschaft und Theaterkunst über Jahrhunderte hinweg Generationen verbinden. Die Passionsspiele von Erl sind heute weit über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt und stehen für gelebte Geschichte, Brauchtumspflege und kulturelle Identität.
Der Brennerpass: Historisches Tor durch die Alpen
Der Brennerpass zählt zu den bedeutendsten und zugleich niedrigsten Alpenübergängen und war über Jahrtausende hinweg ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt zwischen Nord und Süd. Besonders das Inntal, durch das der grüne Inn gemächlich fließt, bietet eine der bequemsten Routen durch das mächtige Gebirge. Schon die Römer errichteten hier die erste Straße über den Pass, Kaiser Karl zog auf seinem Weg nach Canossa durch das Tal, und bis heute nutzen Händler und Reisende diese Verbindung.
Der Brennerpass ist mehr als nur ein Alpenübergang, er ist das Tor zur italienischen Adria. Über Jahrhunderte hinweg florierte der Handel auf dieser Route:
• Wein, Getreide, Tuche und Salz fanden den Weg in den Norden
• Der Süden wurde im Gegenzug mit Wolle, Pelzen und Honig beliefert.
Wo der Handel blühte, ging es auch den Menschen gut. Wohlstand, Austausch und kulturelle Entwicklung sind untrennbar mit dieser historischen Verkehrsachse verbunden.
Krankheiten auf Reisen: Wenn Seuchen über die Alpen kamen
Schon im Mittelalter machten sich Händler auf den Weg über den Brennerpass und andere wichtige Handelsrouten durch die Alpen. Sie transportierten ihre Waren auf Wagen, Karren, Lasteseln oder Pferden. In ihren Bündeln lagen Stoffe, Salz, Wein, Getreide und viele weitere begehrte Handelsgüter.
Doch nicht immer beschränkte sich der Transport auf harmlose Waren. Oft genug reisten auch unsichtbare Gefahren mit: Krankheiten. Pest, Pocken und andere infektiöse Krankheiten verbreiteten sich unbemerkt mit den Menschen, die von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf zogen. Die Reiserouten des Handels wurden so auch zu Routen der Seuchenverbreitung.
Krankheiten als unerkannte Begleiter
Niemand wusste damals von Viren oder Bakterien. Die Menschen vermuteten hinter Krankheiten wie der Pest oder den Pocken den Zorn Gottes. Wer krank wurde, galt als von Gott bestraft. Besonders in Zeiten großer Epidemien verstärkte sich dieser Aberglaube.
Wie die Menschen reagierten
Während sich manche in ihr Schicksal fügten, suchten andere nach Wegen, um Gottes Gnade zurückzugewinnen. Messen, Bußgänge und Bittprozessionen wurden abgehalten. Man hoffte, dass durch Frömmigkeit und Demut das Unheil von den Städten und Dörfern abgewendet werden könnte.
Warum sich Krankheiten so schnell verbreiteten
• Keine Hygiene-Standards
• Enge Handelswege und Gasthöfe
• Unwissenheit über Ansteckung
• Lange Reisedauern ohne medizinische Versorgung
Reisende waren also nicht nur Bringer von Waren, sondern unbewusst auch Überträger von Krankheiten. Besonders entlang bekannter Routen wie dem Brennerpass oder durch das Inntal verbreiteten sich Seuchen schnell.

Erl: Zwischen Bayern und Tirol, zwischen Glauben und Geschichte
Das kleine Dorf Erl in Tirol liegt nicht nur idyllisch nahe bei Kufstein, sondern auch an einer der wichtigsten Reiserouten zum Brennerpass. Schon seit Jahrhunderten führt der Weg von Norden nach Süden am Inn entlang, damals wie heute teilen sich Autobahn, Eisenbahn, der Fluss und kleine Nebenstraßen das weite, grüne Tal.
Erl ist geografisch besonders gelegen: An drei Seiten von Bayern umgeben, befand sich der Ort immer wieder mitten in umkämpften Grenzregionen. Kein Wunder also, dass auch die großen Katastrophen der Geschichte, wie die Pest und andere Seuchen, hier stets zum Greifen nah waren.
Der Ursprung der Passionsspiele in Erl
Der Schwarze Tod – wie die Pest genannt wurde – prägte das Leben der Menschen tief. Doch wo Furcht herrscht, wächst auch der Wille zum Widerstand, zur Hoffnung, zum Gebet. In Erl fanden die Menschen eine besondere Form, ihrem Glauben Ausdruck zu verleihen: die Passionsspiele.
Ob es die Bauern und Schiffer von Erl waren, die aus eigenem Antrieb begannen, oder ob der Anstoß vom Pfarrer kam – darüber schweigt die Geschichte. Sicher ist nur: 1613 wurden die Spiele zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Pilger berichteten von diesem besonderen Schauspiel, das von der Leidensgeschichte Christi erzählte. So begann die bis heute lebendige, offizielle Geschichte der Passionsspiele von Erl.
Erl, der Inn und die Route zum Brennerpass: Ein Ort voller Geschichte
Erls Lage an der alten Handelsroute Richtung Italien brachte nicht nur Wohlstand und Austausch, sondern auch Gefahren. Krankheiten reisten mit den Händlern, Krieg und Konflikt kamen über die Grenze. Doch ebenso kamen Pilger, Gläubige, Händler und Künstler, alle prägten das Leben in diesem kleinen, aber bedeutenden Ort.

Passionsspiele Erl: Gelebte Tradition im Wandel der Zeit
Auch wenn heute die Schrecken von Pest und Krieg weit entfernt scheinen, und immer weniger Menschen an einen zürnenden oder gütigen Gott glauben, halten die Menschen in Erl bei Kufstein unbeirrt an ihrer Tradition fest. Alle sechs Jahre bringen sie ihre Passionsspiele auf die dafür eigens errichtete Bühne.
Die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu Christi ist bekannt. Sein Tod am Kreuz, der Weg dorthin – all das birgt für die meisten Besucher keine Überraschung mehr. Sollte man zumindest meinen. Doch wer glaubt, in Erl gäbe es nichts Neues zu entdecken, der irrt. Regisseur Martin Leutgeb präsentiert die berühmte Geschichte, die jede und jeden auf besondere Weise anspricht und erreicht, neu. Wer war Jesus, dieser Mensch wirklich? Ein Wunderheiler? Ein Rebell? Ein Hoffnungsträger? Die Inszenierung lässt Raum für eigene Gedanken und Fragestellungen. Jede Zuschauerin, jeder Zuschauer – egal ob gläubig oder nicht – kann sich sein eigenes Bild machen.
Besonders berührend sind die zahlreichen Auftritte der jüngsten Passionsspieler:innen. Die Kinder der Aufführung nehmen die Erwachsenen in die Verantwortung. Die kleine Sarah, die sich voller Mut für Jesus Christus einsetzt, wird dabei sinnbildlich zum Symbol unserer Zeit und stellt die eindringliche Frage: Welche Welt hinterlassen wir Erwachsene den nächsten Generationen? Ist diese noch lebenswert?
Spektakuläre Bühne und klanggewaltige Musik
Das Bühnenbild, gestaltet von Hartmut Schörghofer, ist einzigartig: Eine weiße Treppe, die sich diagonal ohne Anfang und Ende über die Bühne erstreckt, steht für den Lebensweg Jesu‘. Ein fragmentierter Berg öffnet und schließt sich als zweites Bühnenelement außerdem je nach Szene. Mittendrin ein 25-köpfiges Orchester, das unter der Leitung von Toni Pfister seine klangvolle Darbietung grandios auf den Punkt bringt.
Komponist Christian Kolonovits hat für die Passionsspiele großartige Musik geschaffen, die an epische Erzählungen erinnert, wie wir sie aus dem Kino kennen. Auch der Chor beeindruckt mit stimmgewaltigen Momenten und es ist kaum zu glauben, dass all das live auf der Bühne passiert.
Gottesdienst im Bühnenbild
Ein sehr besonderes Angebot gibt es an jedem Spielsonntag: Besucherinnen und Besucher können vor der Aufführung der Passion einen Gottesdienst direkt im Bühnenbild erleben. Religiöse Tiefe trifft dabei auf beeindruckende Ästhetik und so wird die Kombination ein spirituelles Erlebnis der besonderen Art.
Warum man sich das gerade in der heutigen Zeit ansehen sollte?
Die Passionsspiele Erl sind sehr viel mehr als Unterhaltung. Sie erzählen von Hoffnung, Liebe und dem Glauben an das Gute – von universellen Gefühlen, die Menschen auf der ganzen Welt verbinden. Außerdem erzählen sie von einer Person, der bereit war, aus freien Stücken für seine Überzeugung zu sterben. Eine Botschaft, die heute aktueller denn je ist und eine, die unter anderem Dank der Passionsspiele in Erl unvergessen bleibt.
Die Zuschauerinnen und Zuschauer werden Teil dieser immer wieder neu erzählten Geschichte – sie werden zu Mitfühlenden, zu Begleiter:innen auf diesem besonderen Weg. Ein wahrer Gänsehaut-Moment ist vor allem die Szene des letzten Abendmahls mit einem halb gesprochenen, halb gesungenen „Vater unser“.
Einzigartige Gemeinschaft
Nirgendwo sonst erlebt man so deutlich den Zusammenhalt einer ganzen Gemeinde. Fast jede Familie in Erl ist an den Passionsspielen beteiligt – als Schauspieler:in, Musiker:in, Helfer:in oder Unterstützer:in. Dieses Gemeinschaftsgefühl überträgt sich auf die Zuschauenden und macht jeden Besuch zu einem besonderen Erlebnis.
Beeindruckend sind überdies auch die farbenprächtigen Kostüme von Juliane Herold: Leuchtendes Gelb für den Hohen Rat, kräftiges Orange für das Volk – so wird die Geschichte visuell greifbar.
Praktische Informationen
Die Passionsspiele Erl werden noch bis 4. Oktober 2025 an zahlreichen Wochenenden aufgeführt. Insgesamt stehen 32 Aufführungen auf dem Programm. Das historische Passionsspielhaus bietet dabei jedes Mal Platz für rund 1.500 Interessierte.
Die große Passion im kleinen Dorf: Das Passionsspielhaus Erl
Zwischen 1956 und 1959 wurde in Erl bei Kufstein das neue Passionsspielhaus errichtet. Eine Münchner Zeitung titelte damals treffend von einer „großen Passion im kleinen Dorf“. Das mag nicht überraschen, denn der Zuschauerraum fasst mit seinen 1.500 Plätzen mehr Menschen, als Erl selbst Einwohner hat – rund 1.450.
Besonders zur Passionsspielzeit zeigt sich die enge Verbindung zwischen Dorf und Bühne eindrucksvoll: Ein Drittel der Bevölkerung steht selbst auf den Brettern, die hier nicht nur die Welt bedeuten, sondern Teil der Dorfgemeinschaft und Identität sind.
Vom Brand zum Neubau: Die Geschichte des Passionsspielhauses Erl
Der Neubau war eine Notwendigkeit, denn das ursprüngliche Passionsspielhaus fiel 1933 einem Brand zum Opfer. Doch die NS-Zeit verhinderte eine schnelle Wiedererrichtung: Die Passionsspiele waren von den Nationalsozialisten verboten. Erst lange nach Ende des Zweiten Weltkriegs wagte man einen Neuanfang.
Bemerkenswert: 26 Jahre lagen zwischen dem Brand und der Einweihung des neuen Hauses – mehr als eine Generation. Für viele Vereine oder Traditionen wäre eine derart lange Pause wohl das Ende gewesen. Nicht aber für die Menschen in Erl.
Hier zeigt sich einmal mehr der Tiroler Eigensinn und der starke Zusammenhalt einer Gemeinschaft, die an ihrer Geschichte festhält und sie zugleich immer wieder neu belebt.
Erl, das Passionsspielhaus und seine Bedeutung bis heute
Das Passionsspielhaus Erl ist heute nicht nur eine Spielstätte für die Passionsspiele. Es ist ein Symbol für den unerschütterlichen Glauben der Erler an ihre Kultur, ihre Tradition und die Kraft des Zusammenhalts.
In Erl beginnt alles mit einer Frage: „Willst du mitspielen?“
Wenn die Vollversammlung des Passionsspielvereins beschließt, dass die Passionsspiele Erl erneut aufgeführt werden, ist der Startschuss gesetzt. In der Regel geschieht das alle sechs Jahre. Mit diesem Beschluss beginnt in Erl eine Phase, die das ganze Dorf betrifft – vom Neugeborenen bis zum Greis. Die Frage lautet stets: „Willst du mitspielen?“
Wer spielt, muss auch Geduld haben – und Haare wachsen lassen
Wer sich für das Mitwirken an den Passionsspielen Erl entscheidet, weiß: Die Aufführung ist kein Wunschkonzert. Die Rollen werden vom Regisseur vergeben, nicht nach Sympathie, sondern nach Eignung, Ausstrahlung und manchmal einfach nach Bedarf der Inszenierung.
Haare und Bärte dürfen wachsen. Ab dem Start der Probenphase bis zum Ende der Aufführungen heißt es für die Mitwirkenden: Keine Friseurbesuche! Ein ganzes Jahr lang werden Haare und Bärte gepflegt, aber nicht gestutzt. Denn Authentizität steht in Erl hoch im Kurs – und ein römischer Legionär mit frischer Rasur wäre einfach undenkbar.

Im November beginnen in Erl traditionell die Proben für die Passionsspiele. Zu dieser Jahreszeit kann es im ungeheizten Passionsspielhaus empfindlich kalt werden. Immerhin: Der Proberaum lässt sich heizen und bietet den Mitwirkenden zumindest eine erste, wenn auch begrenzte, Wärmequelle.
Doch wer glaubt, dass dort bis zur Premiere ausschließlich geprobt wird, der irrt. Wechseln sie auf die große, kalte Bühne, üben sie ihre Szenen nicht selten in dicker Skikleidung. Ob in dicken Daunenjacken, Mützen oder mit wärmenden Thermohosen, der Weg zur authentischen Darstellung führt in Erl auch mal über frostige Umwege. Die Leidenschaft der Erler für ihre Tradition ist jedoch stärker als die Kälte. Hier heißt es: Zähne zusammenbeißen, proben, weitermachen.

Freie Sicht auf das Leiden Christi: Die Bühne der Passionsspiele Erl
Von allen Plätzen im Passionsspielhaus Erl genießen die Zuschauer eine uneingeschränkte Sicht auf das gesamte Bühnenbild. Auch der offene, hölzerne Schnürboden bleibt sichtbar – eine ursprünglich geplante Betondecke wurde nie eingebaut. So rahmt das großzügig gestaltete Sichtfeld die Bühne und lässt das Publikum von überall her mitten im Geschehen teilhaben.
Passionsspiele Erl 2025: Ein Erlebnis zum Vormerken
Aktuell finden die nächsten Passionsspiele Erl statt. Wer dieses besondere Schauspiel live erleben möchte, sollte sich rechtzeitig um Tickets und Unterkunft kümmern.
👉 Tickets und Infos: Homepage der Passionsspiele Erl
👉 Unterkünfte in der Nähe bequem buchen: Booking.com – Hotels in Erl und Umgebung
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Ein Ritual nach der Dernière: Der Abschied von Bart und Haar
Nach der letzten Vorstellung, der sogenannten Dernière, kehrt für die männlichen Mitwirkenden wieder der Alltag ein – und mit ihm der Friseur. Die während der gesamten Proben- und Spielzeit sorgsam gepflegten Bärte und Haare werden dann traditionell wieder gekürzt. Ein sichtbares Zeichen: Die Passionszeit in Erl ist beendet.