Kappadokien: Dass ich nach Kappadokien flog, lag am Angebot, ich gebe es zu. Eine Rundreise, acht Tage lang, da wäre ich auch in die Wüste gefahren, oder in die Pampa.
Ich nahm mir vor, auch in den klapperigsten Bus zu steigen, und nicht die Ecken des Hotelzimmers nach Wollmäusen abzusuchen, wollte mich einfach klaglos in jedes Bett legen, was mir so nachts angeboten wird und essen, was auf den Teller kommt. Ich hatte mich auf das Schlimmste eingestellt, was ich mir so vorstellen konnte: fünf Etagenbetten in einem Zimmer, karierte Wolldecken bei frostigen Temperaturen, hellroter Früchtetee, mit einem Beutel Tee auf fünf Liter Wasser und zum Essen abwechselnd Grießbrei, Reisbrei oder Kartoffelbrei.
Ganz so schlimm war es doch nicht. Ehrlich.
Eigentlich war es ganz gut. Sehr gut sogar. Echt.
Eine Reise durch Kappadokien

Einige meiner gut abgehangenen Vorurteile konnte ich auf dieser Reise getrost entsorgen.
Was wusste ich eigentlich so über die Türkei und speziell über Kappadokien? Nicht sehr viel. Die Reise trug den Titel: Auf den Spuren der Apostel.
Als Paulus in Kappadokien auf seinen Sandalen unterwegs war, kam er nach Ikonium, das heutige Konya. Auf der Flucht vor der Christenverfolgung durch Nero zogen einige von ihnen dorthin. Auch Maria, die Mutter von Jesus, soll nach seinem Tod mit dem Jünger Johannes nach Ephesus gewandert sein. Sicherheitshalber. Ephesos liegt westlich von Antalya und heißt heute Selcuk. Auf dem Konzil von Ephesus wurde 431 ihr hiesiges Grab erwähnt. Gleichzeitig erhebt aber auch Jerusalem Anspruch auf das Grab von Maria.
Kümmeltürken gibt es hier nicht
Einem Kümmeltürken bin ich jedenfalls in der Türkei nicht begegnet. Konnte ich auch gar nicht. Entstanden ist das Wort in Halle, früher, als dort noch viel Kümmel angebaut und trostlose Landstriche als Türkei bezeichnet wurden. Mit diesem Wort Kümmeltürke wurde früher ein Student bezeichnet, der aus der Umgebung der Uni stammt.
Und überhaupt. Kappadokien. Türkei. Völlig unterentwickelt, abgesehen von Istanbul. Die Frauen schuften auf den Feldern, während sich die Männer im Teehaus vergnügen. Dachte ich jedenfalls. Wie gesagt, gut abgehangene Vorurteile.
Vorurteile lassen sich ändern
Dann in der Luft war es auch wie immer: Alles sah noch viel kleiner aus, als im Spielzeugland. Keine Grenzen sind zu sehen, nur Straßen und Felder und Berge. „Bitte schnallen Sie sich wegen der Wetterlage an“, sagte die Stewardess. Aber hier oben war gar kein Wetter, hier oben war Sonne. Wetter und Wolken waren doch tief unter uns. Trotzdem wackelten die Tragflächen.
Die Fahrt vom Flughafen zum Hotel dauerte etwas mehr als eine Stunde und entlang der Straße standen lauter Betonbauten. Blinkende Autos überholten eilig den Bus. Hohe Tiere, sagte Ertan, unser Reiseführer für die acht Tage. Soso. Wichtige Leute. Von denen würden wir noch mehr mitkriegen, warnt er.
Vom Balkon aus wäre ein Meerblick möglich gewesen, die Richtung stimmte, aber andere Häuser versperrten die Sicht. Weil es noch früh im Jahr war, gab es weder Kampf um die Poolliegen, noch Kindergebrüll, nur Spatzen und Bauarbeiter lärmten. Der Hibiskus war kahl und struppig, der Strand schmal und kieselig. Aber ich war ja hier nicht zum Spaß, sprich: nicht zum Badeurlaub.
Eine Fahrt mit dem Boot auf dem Manavgat
Sonntag ist Kirchgehtag. Weil ich in der Türkei war, ging es aber nicht in eine Kirche, sondern in eine Moschee. Die Moschee in Manavgat wurde in einem historisierenden Stil vor etwa zehn Jahren neu gebaut, übersetzt Ertan die Tafel neben dem Eingang.

Weil seit Atatürks Zeiten Staat und Kirche in der Türkei streng getrennt sind, treibt der türkische Staat auch keine Kirchen- resp. Moscheesteuer bei den Gläubigen ein. Soll also in der Türkei eine neue Moschee gebaut werden, müssen die Menschen, welche das wollen, dafür sammeln und spenden, beten soll auch helfen.

Die Häuser rund um die Moschee herum sahen ziemlich neu aus. Wo haben die Menschen, die darin leben, eigentlich vorher gewohnt? Sind die alle aus den Dörfern in die Städte gezogen? (Genaueres erzählte Ertan später, dazu komme ich also noch). Außerdem war Wahlkampf: Deswegen hingen überall Fahnen und Plakate herum, mit Politikern, welche gewählt werden wollen.
Auf dem Manavgat in Manavgat

Gemächlich und träge glitt das Schiff durchs Wasser, der Motor vibrierte, melancholische Akkordeonmusik tönte aus dem Lautsprecher. Viel Zeit zum Gucken. Kurz vor der Mündung ins Meer hatten Händler auf einer Landzunge Zelte aufgebaut. Weil es dort frisch und windig war, standen früher Sommerhäuser auf Holzpfählen, erzählt Ertan. Da dort allerdings auch Karettschildkröten ihre Eier in den Sand legen, mussten die Häuser abgerissen werden.
Über das Taurusgebirge nach Konya

Nordwärts ging es, in steilen Kurven stieg die Straße hinauf zum Pass. Wir sollten das Grün der Bäume genießen, warnt der Reiseführer vor der steinigen Wüste der kommenden Tage. Was heute eine Busfahrt von zwei Stunden ist, dauerte vor wenigen Jahren zu Fuß und mit Lasttieren noch mehrere Tage. Ab und an schlängelten sich noch Reste der früheren schmalen Straße nebenan. Sonst war nicht viel Platz zwischen Straße und Steinen.
Tankstellen als moderne Karawanserei

Was früher Karawansereien waren, Raststätten, an denen Menschen und Tiere ausruhen, essen, trinken, schwätzen und schlafen konnten, sind heute Tankstellen. Autos und Busse bekommen Sprit, die Menschen Kaffee, türkischen Honig, Tee und getrocknete Früchte. Irgendwann roch es metallisch und rußig: Eine Bauxitfabrik, erklärt Ertan, hinten zu erahnen. Auf der alten Seidenstraße ging es bis Konya, ehemals Ikonium, dorthin, wo bereits der Apostel Paulus war. In der Apostelgeschichte heißt es: Paulus und Barnabas zogen weiter nach Ikonium (Apg 13, 50). Als sie jedoch in der dortigen Synagoge predigten, mussten sie weiter fliehen – sonst drohte die Steinigung (Apg 14)
Barbarossa war auch schon hier
Später zog Kaiser Friedrich Barbarossa auf seinem Weg nach Palästina durch Kappadokien, und schlug am 18. Main 1190 seine letzte Schlacht auf dem dritten Kreuzzug, die Schlacht von Ikonium. Als er anschließend mit seinem Heer durch den Taurus hinunter zur Küste zog, ertrank er am 10. Juni im Fluss Saleph. Da seinem Sohn Friedrich V. von Schwaben nur noch wenige Kreuzritter nach Palästina folgten war der Kreuzzug damit fast zu Ende.
Die Fußspuren von Paulus sind längst verweht, ebenso die Zitadelle, in die sich der seldschukische Sultan vor den Kreuzrittern geflüchtet hatte. Doch das ehemalige Kloster der tanzenden Derwische gibt es noch.
Das Kloster in Konya
„Ist doch alles Hottentottenmusik“, murrt die Großmutter, als ihre Enkelin den neuen Song von Xavier Naidoo aufdrehte. Dafür wollte das Kind zwei Tage später nichts von der Blasmusik im Stadtpark hören: „Das ist mir zu laut!“
Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort, dort treffen wir uns. —- Rumi

Eine grüne Kuppel leuchtet weit über den Dächern, unter ihr das Grab von Dschalal ad-Din Muhammad Rumi. Ein islamischer Mystiker. Innen stehen viele mit Decken verhüllte Särge, auf jedem ein Turban. Symbolisch, sagt Ertan, die Gräber sind ganz normal im Boden. Unter dem größten Sarg liegt der islamische Mystiker und Gelehrte Rumi, dessen Vater bereits Gelehrter war. Der Sohn studierte beim Vater – und übernahm später seine Stelle.
Der Gelehrte verliebt sich in seinen Schüler.

Irgendwann war Rumi (dessen Name sich von den damals herrschenden Rum-Seldschuken ableitete) etabliert und als Gelehrter hoch angesehen, als zu ihm ein Schüler kam, ein bis dahin unbekannter Derwisch namens Schams. Ab jetzt wird es romantisch: beide haben sich ineinander verliebt, auch wenn Rumi längst verheiratet und selbst Vater war. Sie himmelten sich an, schwärmten füreinander und Rumi interessierte sich nicht mehr für sein Leben als seriöser Lehrer der islamischen Religion. Er wurde ein liebestrunkener Mann, dem Musik, Tanz und Dichtung wichtiger waren als die Moschee. Zum Glück, möchte man heute sagen. Andernfalls gäbe es seine Verse nicht, die selbst von Madonna vertont wurden. Überhaupt sind seine Bücher in Amerika Bestseller.
Die Idee der Liebe

Er beschreibt in ihnen seine Idee der Liebe, die für alle Menschen und Religionen gleichermaßen gültig sein soll. Doch von Rumis Anhängern wurde Schams angefeindet, so dass er schließlich nach Damaskus floh. Rumi schickte seinen Sohn hinterher, Schams kam zurück, verschwand jedoch kurze Zeit später wieder. Wohin? Das weiß niemand. Vielleicht reiste er heimlich und ohne Spuren zu hinterlassen an einen Ort, wo ihn niemand finden konnte. Vielleicht wurde er aber auch von eifersüchtigen Menschen ermordet.
Rumi gründete den Orden der tanzenden Derwische. Er glaubte, dass sich mit Musik und spirituellem Tanz der Mönche eine Extase erreichen ließe, in welcher der betende Tänzer an der universellen Liebe teilhaben könnte. Immer noch pilgern viele Türken nach Konya, Rumi zu ehren, auch wenn das Kloster selbst längst säkularisiert ist. Die tanzenden Derwische sind seit dieser Zeit in einem Verein organisiert.
Die tanzenden Derwische
Vorne in der ersten Reihe wird es kühl, warnt Ertan. Die Zeremonie selbst wurde erklärt: Musik und Gesang ist eine Lobpreisung des Propheten. Aber lässt sich damit das Wesen hinter dem Tanz der Derwische erfassen, das Geheimnis? Wahrscheinlich ebenso wenig, wie sich mit einer Erklärung über die Baugeschichte einer Kathedrale deren Faszination begreifen lässt, welche die weit gespannten Gewölbe auf Menschen ausüben.
In weiße Gewänder gehüllt

Wie sieben weiße Vögel breiten die Derwische ihre Arme, die weiten Gewänder werden zu Schwingen. Doch sie fliegen nicht, sie drehen sich, stundenlang, wie mir schien, ihre Köpfe auf die Schulter geneigt, mit geschlossenen Augen. Sie drehen sich, strecken den rechten Arm zum Himmel, mit geöffneter Hand, von dort empfangen sie Weisheit und Güte Gottes. Sie reihen diese mit dem anderen Arm, der zur Erde weist, an die Menschen weiter. Ein steingrauer Filzhut symbolisiert den Grabstein, die weißen Gewänder stellen die Totenhemden dar.
Musik der Tanzenden Derwische
Die persische Flöte Nei wird von Laute, Zither und Trommel begleitet. Der Tanz der Derwische ist ihr Gebet und Zugang zu Gottes Geist. Kann ja sein. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott dazu gesagt hat, dass ringsum zahlende Touristen sitzen sollen, dicht gedrängt wie in einem Zirkuszelt.
1925 ließ Kemal Atatürk alle Derwischorden verbieten. Er sah in ihnen eine Gefahr für seine moderne Türkei, waren sie doch in ihren Traditionen verhaftet. Die Klöster wurden aufgelöst, die Derwische organisierten sich in Vereinen. Achtzig Jahre nach Aufhebung des Ordens wurde die Zeremonie der Tanzenden Derwische in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen.
Zum zweiten Teil der Reise geht es hier entlang: Kappadokien – märchenhafte Traumwelt aus Stein